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Anorexia nervosa
Die meisten Erkrankten leiden an einer
Körperschemastörung: Sie nehmen sich trotz
Untergewichts
als zu dick wahr. Ihr
Selbstwertgefühl
hängt nicht nur von allgemeinen Leistungen in Beruf, Hobby oder
Privatleben, sondern besonders stark auch von der Fähigkeit ab, das
Körpergewicht kontrollieren zu können. Die Gedanken der Kranken sind
eingeengt und kreisen stets um die Themen
Ernährung,
Gewicht und Körperschema.
„Das anorektische Mädchen lehnt das Essen ab und beschäftigt sich doch
mehr damit als die meisten Gourmets. Sie lehnt ihren Körper ab,
konzentriert sich jedoch in all ihrem Denken und Handeln auf ihn. Sie
will selbstständig und unabhängig sein, verhält sich jedoch so, dass
ihre Interaktionspartner sie nahezu zwangsläufig kontrollieren.
Das Kennzeichen der Anorexia nervosa ist die selbst herbeigeführte
Gewichtsabnahme, die durch Verminderung der Nahrungsaufnahme erreicht
wird, wobei besonders Nahrungsmittel, die als „fett machend“ angesehen
werden, weggelassen werden. Es gibt auch einen der
Bulimia nervosa
ähnlichen „Purging-Typ“ der Anorexia nervosa (engl.: to purge = abführen).
Die an diesem Typ Erkrankten beschleunigen ihre Gewichtsabnahme durch
selbst ausgelöstes Erbrechen, missbräuchliches Einnehmen von
Appetitzüglern,
Laxantien
(Abführmitteln) oder
Diuretika,
Verwendung von
Klistieren
oder exzessive
sportliche
Betätigung.
Diagnose
Die Diagnose wird aus dem Ergebnis verschiedener Untersuchungen
gestellt:
-
Körperliche (klinische) Untersuchung, die viele der genannten
Symptome offenbart,
-
Untersuchungen, wie
Elektrokardiogramm und
Laboruntersuchungen des Blutes
-
Erstellung eines sogenannten
Psychopathologischen Befundes im Rahmen der
Anamneseerhebung
Entsteht der Verdacht, dass andere Ursachen das Untergewicht verursacht
haben, werden weitere Untersuchungen veranlasst.
ICD-10-Diagnosekriterien für Anorexia nervosa
-
Tatsächliches Körpergewicht mindestens 15 % unter dem zu
erwartenden Gewicht oder
Body-Mass-Index von 17,5 oder weniger (bei
Erwachsenen)
-
Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch
Vermeidung von hochkalorischer Nahrung und zusätzlich
mindestens eine der folgenden Möglichkeiten:
-
selbstinduziertes Erbrechen
-
selbstinduziertes Abführen
-
übertriebene körperliche Aktivität
-
Gebrauch von Appetitzüglern und/oder
Diuretika
-
Körperschemastörung in Form einer spezifischen
psychischen Störung
-
Endokrine Störungen, bei Frauen manifestiert als
Amenorrhoe, bei Männern als Libido- und
Potenzverlust
-
Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge
der pubertären Entwicklung gestört (Wachstumsstopp, fehlende
Brustentwicklung)
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Das Hauptunterscheidungsmerkmal (Differentialdiagnose)
zur
Bulimia nervosa
ist das Körpergewicht. Eine Anorexia nervosa wird diagnostiziert, wenn
ein selbst herbeigeführtes
Untergewicht
besteht und der
Body-Mass-Index
unter 17,5 liegt.
Körperliche Folgen
Die Magersucht ist eine schwere, unter Umständen tödliche Erkrankung.
Das extreme
Untergewicht
verursacht körperliche Folgen:
-
Herz:
verlangsamter
Herzschlag,
niedriger
Blutdruck, Veränderungen bei der Erregung des Herzmuskels
(besonders: verlängertes
QT-Intervall)
und
Herzrhythmusstörungen, woraus ein
plötzlicher
Herztod folgen kann.
-
Blut:
Störungen der
Elektrolyte
(besonders gefährlich:
Hypokaliämie
mit Herzrhythmusstörungen),
Unterzuckerung,
Blutarmut,
Leukozytopenie und
Thrombozytopenie.
-
Hormone:
niedrige Konzentrationen von Geschlechtshormonen (LH,
FSH,
Östrogen),
dadurch:
Amenorrhoe,
Unfruchtbarkeit, mitunter Ausbleiben des Brustwachstums
bei Frauen. Verlust von
Libido
und
Potenz
bei Männern. Niedrige Konzentration von
Schilddrüsenhormonen. Leicht erhöhte Konzentration von
Glukokortikoiden.
-
Knochen:
Osteoporose
mit erhöhtem Risiko einer
Fraktur
-
(falls häufiges Erbrechen) Zähne: Erosionen durch
Magensäure,
Karies.
-
Organe: Darmträgheit und chronische
Verstopfung,
Magenkrämpfe,
Übelkeit,
Nierenversagen, Blasenschwäche (Inkontinenz).
Bis zu 15 % der Erkrankten sterben
– entweder durch Komplikationen wie
Herzstillstand
oder Infektionen, oder aber durch
Selbstmord.
Ein Teil der überlebenden Patienten leidet zeitlebens an Langzeitfolgen
wie
Osteoporose
oder
Niereninsuffizienz.
Die Kranken sind sehr kälteempfindlich und ihre
Körpertemperatur
kann erniedrigt sein, weil der Körper den Stoffwechsel herunterfährt und
das
wärmedämmende
subkutane
Körperfett
fehlt. Weitere Symptome sind Schwindelgefühle, Ohnmachtsanfälle und
hormonelle
Störungen. Zudem kann es zu trockener Haut und zum Wachsen von
Lanugohaaren
an Rücken, Armen und Gesicht kommen.
Bei Frauen bleibt die Periode aus (Amenorrhoe).
Die Einnahme der
Antibabypille
überdeckt dieses Symptom, daher ist das Auftreten der Monatsblutung kein
sicheres Ausschlusskriterium für Anorexia nervosa. Die künstlich
zugeführten Hormone regulieren jedoch nicht den gesamten gestörten
Hormonhaushalt.
Beginnt die Krankheit vor der Pubertät, endet das Größenwachstum
vorzeitig und die
Geschlechtsreife
tritt nicht oder nur verzögert (Pubertas
tarda) ein: Bei Mädchen entwickelt sich die
weibliche Brust
dann nicht, bei Jungen bleibt die Entwicklung der
Hoden
und des
Penis
aus.
Einflussfaktoren
Das
Schönheitsideal
von Frauen in den westlichen Industrienationen hat sich in den letzten
Jahrzehnten gewandelt: Schlankheit gilt als Ideal
Für die Entstehung der Magersucht nimmt man heute an, dass folgende
Faktoren zusammenwirken:
-
eine erbliche
Disposition,
-
gesellschaftliche Faktoren, zu denen neben dem Schlankheitsideal
auch eine veränderte
Rollenerwartung zählt,
-
individuelle Faktoren wie ein Mangel an Selbstwertgefühl sowie
-
bestimmte familiäre Faktoren.
Genetische Prädisposition
Die
Zwillingsforschung hat eine familiäre Häufung der Erkrankung
nachgewiesen. Bislang konnten noch keine
Gene
genau identifiziert werden, mit welchen eindeutig eine entsprechende
Disposition
einhergeht. Die Forschung konzentriert sich besonders auf Gene, die im
Zusammenhang mit einem leicht störbaren
Neurotransmitter-System
von
Serotonin
stehen. Neuere Untersuchungen lokalisieren entsprechende Mutationen des
Gens OPRD1 und in der Nähe des HTR1D-Gens.
Einfluss der Familie
Die meisten Therapeuten nehmen an, dass der Hauptgrund für Magersucht in
der Familie zu suchen ist. In den meisten Fällen handelt es sich um eine
unauffällige bürgerliche Familie, die sich selbst gern als absolut
„intakt“ darstellt; die Meinung Außenstehender hat – insbesondere in
Bezug auf den Patienten – höchste Priorität. Sind Jugendliche erkrankt,
kann oft eine hohe Leistungsanforderung von den Eltern an den jungen
Menschen festgestellt werden. Sollte dieses Bemühen enttäuscht werden,
wird dies dann häufig nicht mit offensichtlichen Strafen geahndet,
sondern mit dem Vorwurf an den Jugendlichen, Vertrauen enttäuscht zu
haben. Geringe emotionale Unterstützung, geringer Kontakt, emotionale
Kälte, geringe oder nur bedingte Zuneigung und hohe Erwartungen der
Eltern scheinen ebenfalls eine Rolle zu spielen. Aus
systemisch-familientherapeutischer Sicht herrscht in Familien
mit an Magersucht Erkrankten ein großes Harmoniestreben der
Familienmitglieder untereinander, eine Auseinandersetzung mit Konflikten
und negativen Gefühlen (Wut, Zorn, Unsicherheit, Ängste) findet nicht
statt. Die Mütter magersüchtiger Patienten sind häufig übermäßig
ängstlich und wenig selbstbewusst.
Beachtet wird zudem die Vermaschung. Gemeint ist damit die
Inbesitznahme des Lebens des Patienten durch die Eltern sowie das Fehlen
jeglicher Privatsphäre. Natürlich gibt es nicht die anorektische
Familie. In den Biografien Essgestörter - überwiegend bei der
Bulimia nervosa
- konnte überdurchschnittlich häufig
sexueller
Missbrauch gefunden werden. Es ist nicht eindeutig geklärt,
ob dies tatsächlich ein
ätiologisches
Merkmal ist.
Nach der
psychoanalytischen Theorie ist die Hauptursache von
Essstörungen eine gestörte
Eltern-Kind-Beziehung. Ein zentraler Konflikt ist das Streben
nach Autonomie, was zu einer Loslösung einer als stark erlebten
Abhängigkeit von der Mutter und deren Kontrolle führen soll
(„Abhängigkeits-Autonomiekonflikt“). Anorektische Personen versuchen
aber auch, durch die Kontrolle über ihr Gewicht ihren
Selbstwert
zu stabilisieren („Selbstwertkonflikte“) und durch ihre Schlankheit eine
unabhängige Identität zu erlangen („Identitätskonflikt“). Diese
Konflikte können psychisch nicht symbolisiert (also nicht „gedacht“)
werden. Der Ausdruck der Konflikte und ihre Kommunikation nach außen
geschieht über das Körperliche. Dabei soll Selbstkontrolle des eigenen
Körpers erreicht werden. Gleichzeitig lehnt die betreffende Person eine
erwachsene Identität und damit auch die körperliche Erscheinung ab. Dies
wird häufig als
Abwehr
von Triebwünschen verstanden. Die Beherrschung des eigenen Körpers wird
zu einem Mittel, Wünsche nach Autonomie 'auszuleben'. Diese Wünsche
stehen im Gegensatz zu der Angst vor der Trennung von der Mutter, die in
der
Adoleszenz
wiederaufleben. Das aggressive Streben nach Autonomie, das sich häufig
in der Adoleszenz zeigt, wird somit über den Körper ausgelebt. Zudem wird die Unfähigkeit die Konflikte psychisch zu symbolisieren als
strukturelle
Störung unterschiedlicher Stärke betrachtet.
Kulturelle Faktoren
Für die gestörte Wahrnehmung des eigenen Körpers (Störung des
„Körperschemas“) können die Kritik von Gleichaltrigen, die Kritik von
Mutter und/oder Vater sowie das gesellschaftliche Schlankheitsideal eine
große Rolle spielen. Die gezielte Gewichtsabnahme reduziert die Angst
und macht so das Abnehmen zu einem wirkungsvollen
Verstärker.
In
westlichen
Industrienationen
herrscht ein kultureller Druck auf Frauen, schlank zu sein. Dieses
Schönheitsideal
wird durch die Massenmedien transportiert. Schlankheit und gutes
Aussehen wird vor allem in der
Werbung
häufig mit beruflichem und sozialem Erfolg
verknüpft.
Unter anderem werden
Diäten
als Mittel zum Erreichen dieses Ideals angepriesen. Die Krankheit
beginnt häufig im Rahmen einer Diät und wird durch die Anerkennung und
Beachtung, welche die Betroffene (vielleicht erst) durch ihren schlanken
Körper bzw. ihren
Gewichtsverlust
erhält, verstärkt.
Andere Umweltfaktoren
Auch schwere psychische
Traumatisierungen
wie z. B.
sexueller
Missbrauch oder
Misshandlung
sind in der Geschichte von Magersuchtpatienten zu finden. Ein Mangel an
Selbstwertgefühl, ein geringes
Selbstbewusstsein
und
Perfektionismus
sind
Persönlichkeitszüge, die vor Ausbruch der Erkrankung
bestehen. Die Annahme, dass all diese Faktoren zusammenwirken, wird als
„psychobiologisch-soziales Modell“ bezeichnet.
Extremer Gewichtsverlust kann Begleiterscheinung von Depressionen oder
Ausdruck von
selbstverletzendem Verhalten sein; er kann auch selbst von
Depressionen oder Selbstverletzungen begleitet sein. Viele Menschen mit
Anorexia nervosa neigen zu
zwanghaftem
Verhalten bzw.
Perfektionismus
in allen Lebensbereichen.
Für die Patienten ist die Magersucht in erster Linie eine Abwehr von
Fremdbestimmung.
Die Kontrolle über den eigenen Körper (z. B. durch
Kalorien-Zählen)
ist eine Form der
Selbstkontrolle
und der Ohnmachtsbewältigung im Prozess der
Adoleszenz.
Magersucht ist fast immer (nur) ein
Symptom
eines tiefer liegenden psychischen (und sozialen) Problems, das
behandelt werden muss. Eine Symptomtherapie (wie z. B. mit
Pharmazeutika) allein reicht nur selten aus. So ist das Schlankwerden
oft nur zu Beginn der Krankheit das zentrale Motiv. Erkrankte mit
jahrelangem Krankheitsverlauf erleben das Abnehmen häufig als
Sucht.
Therapie
Die Erkrankung kann nur selten durch eine kurze Behandlung geheilt
werden. Häufig ist der Krankheitsverlauf langwierig, ebenfalls häufig
lässt sich mit den
zur Verfügung
stehenden Therapien keine Heilung erreichen. Magersucht zählt
zu den psychischen Krankheiten mit der höchsten Sterberate. Etwa 15
Prozent der Erkrankten sterben daran.
Oft werden
systemisch-familientherapeutische Behandlungen empfohlen. In
diesem Kontext erscheint der anorektische Patient als Symptomträger
einer Familie; behandlungsbedürftig ist demnach nicht er alleine,
sondern der Patient Familie. Sie muss lernen, dass
Ausdrucksformen und Regeln derart geändert werden müssen, dass in der
Familie Kommunikation und Konflikte direkt ausgedrückt werden können und
somit kein Symptom mehr nötig ist. Nicht Einzelpersonen werden geändert,
sondern die Regeln innerhalb des Systems.
Psychoanalytische
Behandlungsansätze kommen ebenfalls zum Einsatz. Sie sollen unbewusste
Konflikte, die zur Entstehung des Symptoms geführt haben, bewusst machen
und so eine weitere Reifung der Persönlichkeit ermöglichen. Interessant
ist, dass durch die psychodynamischen Therapien häufig eine Verbesserung
der Symptomatik erreicht wird, ohne dass in der Therapie das
fehlangepasste Essverhalten thematisiert wird.
Oft werden auch
kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungen angewandt.
Ihre Ziele sind
-
die verzerrte Körperwahrnehmung der Patienten zu beeinflussen,
-
die Einstellungen zum Essen zu verändern und
-
Wege für eine bessere Konfliktbewältigung sowie
soziale
Kompetenzen zu vermitteln.
Es
existiert keine störungsspezifische psychopharmakologische Therapie.
Dies liegt daran, dass keine Medikation bewirken kann, die hinter der
Magersucht stehenden Hintergrundprobleme (in erster Linie
Bindungsunsicherheit und mangelndes
Selbstwertgefühl)
zu verbessern. In der Vergangenheit angewandte symptomatische – auf eine
Gewichtszunahme bezogene – Behandlungen mit
Neuroleptika
und
Antidepressiva
zeigten bisher keine positiven Effekte - wegen der mangelnden
Compliance
der Patienten, an einer Therapie mitzuwirken, die mit einer
unkontrollierbaren Gewichtszunahme einher geht.
Eine störungsspezifische Therapie umfasst neben einer Stabilisierung des
Essverhaltens die psychotherapeutische Behandlung des Patienten. Bei
einem kritischem Untergewicht – akute Todesgefahr besteht unter einem
BMI
von 13 – ist eine stationäre Behandlung in einem Krankenhaus mit einer
parenteralen
Ernährung notwendig, wobei der Patient über einen venösen
Zugang mit
Nährstoffen/Elektrolyten
versorgt wird. Diese Zwangsernährung dient der Lebenserhaltung und ist
als Therapie zur Verhinderung der körperlichen Folgen – bis hin zum
Tod – der Erkrankung zu verstehen.
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